… mir kam also die Idee, das optische Experiment (sehhilfenfreie Welterkundung, siehe Blogbeitrag vom 9. Oktober) noch in Richtung Akustik zu erweitern. Befreit von Brille und ausgestattet mit Ohrstöpseln begab ich mich erneut in die Welt hinaus und habe dabei keinen erwähnenswerten Schaden erlitten, obwohl ich mitten hineinlief ins Ungefähre.
Mein Atmen übertönte all die zu Hintergrundrauschen degradierten Geräusche wie Motorenlärm, Kindergeschrei, Vogelzwitschern, und die Welt entfernte sich von mir. Mein Denken hielt inne. So konnte ich mich zunächst bedenkenlos auf mich selbst konzentrieren, um mich dann wieder dem Außen zuzuwenden, intensiver und paradoxerweise unbehelligter von mir selbst. Man könnte sagen, ich verlor das Denken, anstatt mich wie sonst im Denken zu verlieren, und hatte nun endlich Muse zu schauen und mich zu wundern über das plötzlich so Fremdartige, das mich umgab. Und hier trifft sich die Weltwahrnehmung der schwerhörigen Astigmatikerin mit der Weltwahrnehmung der Lesenden. Je verzerrter, nebulöser und fremder Literatur und Kunst die Welt darstellen, desto klarer lassen sie mich erkennen, wie blind die eigenen Sinnes- und Denkgewohnheiten machen können.
Oben stehendes Filmchen ist natürlich nur ein jämmerlicher Annäherungsversuch, auch weil meine Kamera und ich ein schwieriges Verhältnis pflegen. Es verstimmt sie sehr, dass sie aufgrund meiner Unbedarftheit weit unter ihren Möglichkeiten bleibt. Im Übrigen findet sie meine Herangehensweise an die Dinge etwas zu schräg.
Es empfiehlt sich also, das Experiment selbst zu machen, um einen richtigen Eindruck zu erhalten. Übrigens müssen Menschen ohne Augenprobleme sich dabei nicht benachteiligt fühlen. Ohrstöpsel sind allen zugänglich und womöglich könnte es helfen, sich die Brille eines Freundes auszuleihen, mit deren Hilfe sich auch Normsichtige die Welt ausreichend verzerren können, um ihren Verstand mal im Diffusen zu verlieren für 7 bis 10 Minuten. Denn länger dauerte es bei mir leider nicht, bis das Denken wieder die Macht ergriff und vorbei war es mit dem Zauber. Seither mache ich mir viele Gedanken über die Gedankenlosigkeit, die mir ein gesegneter Zustand zu sein scheint …
Und das ist mir spontan eingefallen beim Lesen des Textes und Schauen des Videos:
da stiegen die lichter herab
von allen decken stiegen sie
und schwebten über den kacheln
die wechselten die farben nur
die lichter blieben sich treu
blieben gleich eins um das andere
matte sonnen die in den unterführungen taumeln
leicht nur aus der senkrechten kegeln
so leicht dass der rasch vorüber gehende
sie gar nicht wahr nimmt
diese kleine abweichung diese ausbuchtung
des raumes in den ort von wo
aus der zeiger der uhren neu justiert werden kann
doch bevor das geschieht fallen alle ziffern
sie rutschen über die weiße emaille
an den flammenden neonröhren entlang
aus der tiefe ruft der zug
ungeduldig die stufen hinauf dem ruf nach
stolpern die zeiger und nach ihnen
stunden und minuten gemeinsam
platz die bahn fährt an
zurück bleibt raum zeitlos
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Ich seh schon – es geht dir genauso wie mir: Das Verschwommene, Ungefähre, Verfremdete inspiriert ungemein. 🙂
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hmm. ist dieses blog gefräßig und hat gerade meinen kommentar geschluckt? sowas schlaues (pfui!) fällt mir bestimmt nicht nochmal ein
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Die Welt einmal durch den Verzerrer gejagt, optisch durch Weglassen der Sehverschärfung, akustisch durch Zustöpseln der Trommelfelle, wobei dein Atmen der wattierten Umgebung eine latent bedrohliche Note hinzumischt.
Hinter jeder Ecke, um die du biegst, vermute ich etwas Unschönes; vielleicht ist das Banale (hier das gekachelte und geteerte halb automatisierte Stadtleben) selbst das Unschöne, oder die Bedrohung, in der das Atmen fremd klingt: nicht dazugehörend, also angsteinflößend.
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Das ist interessant. Jemand anderes hat mir gesagt, dass sie sich an einer Stelle an einen Horrorfilm erinnert gefühlt hat und vom Atemgeräusch irritiert war. Ich fühlte mich nicht bedroht, fand das alles faszinierend und diese hellen Kacheln und Lampen einfach wunderschön. Aber ich wusste natürlich – so verschwommen auch alles war – wo ich unterwegs bin. Vielleicht könnte man die Erfahrung noch intensivieren, indem man sich ohne Brille und mit Ohrstöpsel irgendwohin begibt, wo man noch nie gewesen ist …
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